Identitätsdiskurs im Sachunterricht. Herausforderung für die konzeptionelle Entwicklung in der Fachdidaktik? (abgeschlossen)

Martin Siebach
Abstract
Die Auseinandersetzung mit „Identität“ hat in den letzten Jahrzehnten eine große Dynamik in den Sozialwissenschaften entwickelt; Identität ist zu einem Schlüsselbegriff unserer Zeit geworden. Generationen von Psychologen, Soziologen und Philosophen haben sich an ihm abgearbeitet (Mead 1968, Erikson 1971, Adorno & Horkheimer 1971, Goffman 1975, Giddens 1991, Krappmann 1971, Keupp 1999, Eickelpasch & Rademacher 2004). Die Prominenz des Diskurses verweist auf seine gesellschaftliche Bedeutsamkeit; alle Autoren betonen- in unterschiedlicher Akzentuierung-, dass die Herstellung bzw. Bewahrung von Identität zum Problem geworden ist. Übereinstimmung herrscht dahingehend, dass gesellschaftliche Transformationsprozesse Individuen aus traditionellen sozialen Bindungen und Rollen herauslösen und Prozesse der Identitätsbildung infolgedessen flexibler, unabgeschlossener, eigenverantwortlicher, reflexiver und aufwändiger werden (Eickelpasch & Rademacher 2004, S. 9-15) und die Verantwortung für die soziale Verortung - die Identität- sich immer stärker selbstverantwortlich gestaltet (ebd. S. 19-21). Als besondere Herausforderung ist der Umgang mit externalisierten Aspekten von Identität (brand Identity, extended Identity, digital Identity) zu benennen (Benett 1998, Ahuvia 2005).
Prozesse der Selbstverortung und sozialen Verortung spielen mit Sicherheit auch für Grundschüler*nnen eine gewichtige Rolle. Im Perspektivrahmen für den Sachunterricht wird für die sozialwissenschaftliche Perspektive als Bildungsziel formuliert, „für sie [die SchülerInnen) relevante gesellschaftliche Aufgaben und Probleme zu erkennen, zu reflektieren und gegebenenfalls zu ihrer Lösung beizutragen“ (GDSU 2013, S. 27f). Zudem sind curricular ausgewiesene sachunterrichtliche Themen wie Familie, Geschlecht/Gender, Interkulturalität, Arbeit, Konsum und Berufe identitätsrelevant. Problematisch scheint es deshalb, dass Identität in maßgeblichen Veröffentlichungen der Sachunterrichtsdidaktik der letzten Jahre nicht oder nur randständig auftaucht, wie die Stichwortverzeichnisse zeigen (Kahlert 2016, Kahlert et al. 2015, Köhnlein 2012). Unklar ist bisher, inwiefern Identität als Herausforderung für die konzeptionelle Gestaltung des Faches wahrgenommen wurde und wird.
Das Forschungsinteresse meiner Arbeit gilt daher dem Identitätsdiskurs innerhalb der Sachunterrichtsdidaktik. Es geht mir dabei um folgende Fragen:
- Wie umfangreich sind die Bezugnahmen zur Identitätsthematik insgesamt, auch im Verhältnis zum Gesamtdiskurs?
- Wie stellen sich diese im zeitlichen Verlauf dar?
- Welche Vorstellungen von Identität lassen sich rekonstruieren?
- Welche Bezüge zum soziologischen Identitätsdiskurs können rekonstruiert werden?
- Welche Diskursstränge lassen sich im Verlauf zwischen Diskursteilen erkennen?
- Welche fachdidaktischen Schlussfolgerungen werden formuliert?
Es geht also um den Einfluss von Identitätskonzepten und -theorien auf den fachdidaktischen Diskurs. Untersucht werden im Längsschnitt die Verwendung des Identitätsbegriffs (auch Synonyme) und die Bezugnahme zu Identitätstheorien- und -konzepten.
Da mein Forschungsinteresse eine gewisse Bandbreite von Fragen evoziert, die über quantitative Verteilungsfragen, verschiedene Konzepte- und Lesarten, Diskursstränge (mithin dominante und marginale Positionen, also Machtdispositive) bis hin zu Wirkungszusammenhängen für fachdidaktische Schlussfolgerungen reicht, bietet sich ein methodisches Vorgehen an, dass sich an der „theoretische[n] Grundlegung, [den] methodologische[n] Reflexionen und methodischen Vorgehensweisen“ (Keller 2015, S. 93f) der wissensoziologischen Diskursforschung orientiert, welche „Strukturierungen, Prozesse und Machteffekte gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken in spezifischen oder allgemeinen gesellschaftlichen Arenen […]“ untersucht (ebd.). Um den Identitätsdiskurs innerhalb der wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Sachunterrichts zu identifizieren und dann zu untersuchen, scheint eine Kombination von „distant“ und „closed reading“ (Stulpe & Lemke 2016, S. 32) sinnvoll. Stulpe und Lemke (2016) stellen mit „Blended Reading“ ein Verfahren vor, dass „Text Mining-Verfahren, welche automatisch größere Textmengen strukturieren und damit einen Teil der Analyse übernehmen“ (Philipps 2018, S. 192) mit interpretativen Analysen verbindet (Stulpe & Lemke 2016, S. 43). Damit lässt sich zudem das Problem der Eingrenzung des Diskurses nachvollziehbar bewältigen und die Textauswahl kann Repräsentativität für den Diskurs beanspruchen (Stulpe & Lemke, S. 37f, 43f, 54-56).
Literatur:
Adorno, T., Horkheimer, M. (1971). Dialektik der Aufklärung
Ahuvia , A (2005). Beyond the Extended Self: Loved Objects and Consumers' Identity Narratives. In Journal of Consumer Research, V. 32, 2005, S. 171–184
Bennett, M. et al (1998). Children's understanding of extended identity. In Developmental Psychology, 34(2), S. 322-331.
Eickelpasch, R. & Rademacher, C. (2004). Identität
Erikson, E. (1971). Kindheit und Gesellschaft
Giddens, A. (1991). Modernity and Self-Identity. Self & Society in the Late Modern Age
GDSU (2013). Perspektivrahmen Sachunterricht
Goffmann, E. (1975). Stigma - Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität
Kahlert, J. (2016). Der Sachunterricht und seine Didaktik
Kahlert, J. et al. (2015). Handbuch Didaktik des Sachunterrichts
Köhnlein, W. (2012). Sachunterricht und Bildung
Keller, R. (2015). Diskursanalyse, wissenssoziologische. In Methoden-Lexikon für die Sozialwissenschaften
Keupp, H. (1999). Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identität in der Spätmoderne
Krappmann, L. (1971). Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen
Mead, G. H. (1968). Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus
Stulpe, A., Lemke, M. (2015). Blended Reading. In Text Mining in den Sozialwissenschaften. Grundlagen und Anwendungen zwischen qualitativer und quantitativer Diskursanalyse, S. 17-61
Philipps, A. (2018): Text Mining-Verfahren als Herausforderung für die rekonstruktive Sozialforschung. In Sozialer Sinn. 2018. 19(1), S. 191–210